Erste Hilfe für die Seele
Mental Health war lange ein Tabuthema am Arbeitsplatz. Über Probleme, welche die psychische Gesundheit betreffen, wurde wenig gesprochen und viel geschwiegen. Glücklicherweise findet in diesem Bereich immer stärker ein Umdenken statt und die mentale Gesundheit rückt auch am Arbeitsplatz immer mehr in den Fokus. Für uns bei everdrop ist es ein großes Anliegen, unseren Mitarbeiter:innen ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in welchem sie körperlich und geistig gesund bleiben. Einer unserer wichtigsten Werte als Firma ist “awareness”, also das Bewusstsein für uns selbst und untereinander. Wir möchten vor allem im Bereich der psychischen Gesundheit untereinander noch mehr awareness schaffen und so hat sich unsere Mitarbeiterin Marina Danner zur Mental Health Ersthelferin weiterbilden lassen. Wir haben mit ihr über dieses spannende Thema gesprochen.
Triggerwarnung: Dieser Text handelt von psychischen Störungen und selbstgefährdendem Verhalten.
Hab ich gerade nur mal eine schlechte Phase oder sollte ich mir ernsthaft Sorgen machen? Diese Frage haben sich bestimmt die meisten schon mal gestellt. Gerade in der dunklen und tristen Jahreszeit hat man öfter mal einen “Durchhänger”, fühlt sich antriebslos und manchmal ein bisschen niedergeschlagen. Alles mal in Ordnung, solange das Leben und seine Qualität dadurch nicht beeinflusst werden. Und trotzdem fällt es uns schon in diesen Zeiten schwer, anderen mal ganz ehrlich auf die Frage “Wie geht’s dir?” zu antworten.
Nämlich, dass es gerade nicht so geht und dass das auch mal okay ist. Viel schwieriger wird es dann, wenn Menschen in depressive Phasen geraten, sich über einen langen Zeitraum “nicht gut” fühlen und das eigene Leben erheblich darunter leidet. Gerade hier ist es so wichtig, so früh wie möglich zu sagen “Sieh her, mir geht es nicht gut und alleine komme ich da gerade nicht mehr raus. Ich brauche Hilfe”. Das aber ist gerade das Schwierige: Keiner will “schwach” sein oder sich und anderen eingestehen, dass ihm oder ihr “alles zu viel ist”. Weil wir immer noch ein Thema damit haben, dass psychische Beeinträchtigungen wie Depressionen ein negatives Label tragen.
Doch gerade bei psychischen Beeinträchtigungen jeder Art ist es wichtig, so schnell und früh wie möglich zu handeln. Denn dann stehen die Chancen auf Heilung besonders gut. Unsere Kollegin Marina Danner hat sich deshalb zur Ersthelferin für psychische Gesundheit weiterbilden lassen.
Ziel dieser Weiterbildung ist, die Kursteilnehmer:innen mit einem offeneren Blick durch die Welt gehen zu lassen und bei den Menschen in ihrem Umfeld – beruflich oder privat – Frühwarnsignale zu erkennen und zu helfen, wenn Selbsthilfe schwer bis unmöglich erscheint.
Marina, wie bist du auf die Idee gekommen, diesen Kurs zu besuchen?
Ich interessiere mich ganz allgemein sehr für uns Menschen, unsere Psyche, warum wir sind wie wir sind und warum wir handeln, wie wir handeln. Und obwohl ich mich in diesem Feld als sehr aufgeschlossen und auch als gut informiert bezeichnen würde, ist es mir selber sehr schwer gefallen, mit einer Person, die in meinem privaten Umfeld an einer Depression erkrankt ist, umzugehen. Ich habe gemerkt, wie hilflos ich mich fühle, dass ich nicht weiß, wie ich auf sie zugehen, was ich am besten sagen soll. In manchen Situationen habe ich mich wie gelähmt gefühlt, obwohl ich gerne helfen wollte.
Ich hatte nur solche Angst, etwas falsch zu machen. Instinktiv habe ich damals viel richtig gemacht, wie ich heute weiß. Mir war es aber doch wichtig, einmal richtig zu lernen, was ich wie am besten tue, wenn ich merke, dass es Menschen in meinem Umfeld nicht gut geht und das über “eine schlechte Phase” hinausgeht. Als ich dann in einer Zeitschrift einen Artikel über die MHFA gelesen habe, wusste ich: Das muss ich machen. Und ich bin sehr froh darüber.
MHFA steht für “Mental Health First Aid” – also seelische erste Hilfe. Was hast du in diesem Kurs gelernt?
Um es mal ganz bildlich zu beschreiben: Ich habe gelernt, wie ich seelische Wunden – im Idealfall frühzeitig – erkenne. Also nicht erst, wenn sie nicht mehr von selbst heilen können und nur noch eine große Operation hilft. Sondern wie ich erkenne, dass bei jemandem eine kleine, vielleicht auch manchmal größere Wunde entsteht, die schmerzt und die Person aber nicht so recht weiß, wie sie sich selber “verarzten” soll. Dann auf Augenhöhe auf diese Person zuzugehen, ihr die Scham zu nehmen und ihr erstmal anbieten über das zu sprechen, was sie bewegt, wie sie sich fühlt. Oft hilft es schon, wenn einfach mal jemand zuhört, wenn man sich gehört fühlt.
Ich habe gelernt, dass gut gemeinte Ratschläge, wie “das wird schon wieder” nicht viel bringen. Im ersten Schritt geht es darum, der betroffenen Person zu sagen: “Es ist okay, nicht okay zu sein und das geht vielen Menschen so.”
Wenn man das glaubhaft vermitteln kann, fühlen sich Betroffene meist schon ein Stück weniger, als hätten sie etwas falsch gemacht oder gar “versagt”. Es ist auch wichtig, der Person zu sagen, dass man wahrnimmt, dass etwas nicht mit ihr stimmt und man sich Sorgen macht. Viele Menschen haben das Gefühl, sie wären nicht wichtig und anderen wäre es egal, wenn es ihnen schlecht geht. Bei diesen Gefühlen anzusetzen ist der erste Schritt.
Wie geht es weiter, wenn du jemanden auf deine Wahrnehmung angesprochen hast?
Im nächsten Schritt geht es darum, einen Einschätzung zu treffen, wie schlecht es meinem Gegenüber wirklich geht. Egal wie offen und zugewandt ich auf jemanden zugehe, es kann immer sein, dass die Person trotzdem verschlossen bleibt oder mir nicht alles erzählt. Hier versuche ich dann abzuschätzen, ob die Person in einer ganz akuten Krise ist und dringend sofort Hilfe braucht, oder ob wir gemeinsam erstmal einen Weg finden können, wie ihr oder ihm geholfen werden kann.
Wichtig ist, dass mich dieser Kurs nicht zu einem Arzt oder Psychologen macht. Er sensibilisiert mich in erster Linie und gibt mir an die Hand, wie ich im ersten Moment auf jemanden zugehe und ihn oder sie an jemanden professionellen weiter vermittle. Das ist das Ziel. Dass Betroffene so schnell wie möglich professionelle Hilfe bekommen.
Warum ist es so wichtig, dass jemand schnell geeignete Hilfe bekommt?
Wie bei körperlichen Krankheiten ist es auch bei seelischen Beschwerden so: Je früher man ansetzt und “behandelt” wird, umso besser sind die Heilungschancen. Und psychische Beschwerden sind sehr stark verbreitet. Was kaum jemand weiß ist, dass jede:r Dritte – statistisch gesehen – im Laufe seines oder ihres Lebens an einer psychischen Störung leiden wird. Und davon bekommen nur rund 25% die Hilfe, die sie benötigen. Das ist unglaublich und genau hier müssen wir ansetzen. Denn nur, wenn ein Mensch früh genug und vor allem richtig behandelt wird, kann ihm geholfen werden.
Eine psychische Störung hat nämlich einen großen Einfluss auf die Lebensqualität von Menschen und zählt in Deutschland zur 4. häufigsten Krankheitslast. Das ist erschreckend. Und häufig ist es eben so, dass Menschen keine Hilfe bekommen, weil sie sich selbst nicht trauen oder in der Lage fühlen, Hilfe zu holen und weil ihr soziales Umfeld häufig damit überfordert ist und nicht so recht weiß, was es tun soll. Und genau da setzt das Programm der MHFA an. Die Idee ist, so viele Menschen wie möglich zu psychischen Ersthelfern zu machen, sodass wir ein flächendeckendes Netz spannen können und im Idealfall so vielen Menschen wie möglich frühzeitig helfen können.
Wie läuft so ein Kurs ab, was hast du da alles gelernt?
Es gibt sowohl die Möglichkeit einen solchen Kurs digital als auch persönlich zu absolvieren. Persönlich ist es natürlich immer nochmal schöner und wahrscheinlich auch ein bisschen intensiver als virtuell. Online kann man das Programm halt super in seinen Alltag integrieren und sich den Kurs aussuchen, der am besten in den eigenen Terminkalender passt. Dann sind es – beim Onlinekurs – 6 Einheiten à 2 Stunden, also insgesamt 12 Stunden, in denen die verschiedensten psychischen Störungen behandelt werden.
Man lernt, was typisch für die einzelnen psychischen Störungen ist, worauf ich achten kann um sie zu erkennen und es wird vor allem sehr viel mit Vorurteilen aufgeräumt. Für mich war am Erschreckendsten die Zahlen zu sehen, wie viele Menschen tatsächlich in ihrem Leben eine psychische Beeinträchtigung erfahren. Das hat mir besonders gezeigt, wie wichtig so ein Erste-Hilfe-Kurs für die Seele ist.
Wie hat dieser Kurs deinen Blick auf deine Mitmenschen verändert?
Man sieht anders hin, hat feinere Antennen für die anderen. Denn wenn ich auf der Straße jemanden sehe der verletzt ist, ist es für mich auch selbstverständlich, hin zu gehen, zu Fragen was los ist, meine Hilfe anzubieten und dann im Zweifelsfall jemand professionellen dazu zu rufen. Und genau so sollten wir eben auch mit psychischen Beeinträchtigungen umgehen, wenn wir sie in unserem Umfeld bei der Freundin, dem Arbeitskollegen, der netten Frau aus dem Sportverein feststellen: Hingehen, fragen, helfen.
Das Programm kommt aus Australien und dort ist inzwischen rund jede:r 4. Ersthelfer für psychische Gesundheit. Das ist großartig, weil so die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass jemand, der in eine psychische Krise gerät, jemanden in seinem Umfeld hat, der ihm oder ihr beratend zur Seite steht und professionelle Hilfe organisieren kann. Das würde ich mir für Deutschland auch wünschen.
Was ist das größte Learning, das du für dich aus diesem Kurs mitgenommen hast?
Dass es so wichtig ist, aus einem passiven “man müsste etwas tun” in ein aktives “ich tue etwas” zu kommen. Am Ende macht man am meisten “falsch”, wenn man nichts macht. Für mich war das zum Beispiel besonders interessant, als es um das Thema Suizidalität ging.
Denn die Frage danach, ob sich jemand umbringen möchte, wird nicht dazu führen, dass eine Person es am Ende tut. Wenn sie sich etwas antut, dann war das zuvor schon der Plan. Das habe nicht ich mit meiner Frage danach ausgelöst. Es gibt vermutlich aber nichts Schwereres, als jemanden direkt zu fragen, ob er sich umbringen möchte. Das haben wir auch im Kurs gemacht. Jemand anderem ganz direkt diese Frage gestellt. Selbst wenn du genau weißt, dass das gerade eine Übung ist, ist es unglaublich schwer und das Herz klopft einem bis zum Hals.
Aber nur wenn man fragt, hat man die Chance, dass die Person sich offenbart und man sie davor bewahren kann. Wichtig ist auch mitzunehmen, dass man nie an irgendetwas Schuld hat. Sollte es beispielsweise wirklich zu einem Suizid kommen, hat man ihn nicht durch die Frage danach ausgelöst, dann wollte die Person das bereits davor. Auch wenn das Gegenüber vielleicht wütend oder entrüstet ist, dass ich sie oder ihn frage, ob es ihm oder ihr psychisch nicht gut geht, dann ist das auch in Ordnung. Schlimmer wäre gar nichts zu machen. Das muss man sich immer wieder in den Kopf rufen. Nichts zu machen darf keine Alternative sein.
Was würdest du dir für die Zukunft wünschen?
Mein großer Wunsch ist, dass ein Erste-Hilfe-Kurs für die Seele verpflichtend in Deutschland wird, genauso wie einer für “körperliche” Notfälle. Egal in welchem Bereich es jemand anderem schlecht geht – psychisch oder physisch, wir müssen da hin schauen, unsere Hilfe anbieten und etwas tun. Ich würde mir wünschen, dass wir aus dieser Ohnmacht, die vor allem psychische Krankheiten bei uns auslösen rauskommen und dass wir weiter daran arbeiten, dass psychische Störung entstigmatisiert werden.
Eine psychische Krankheit kann jede:n zu jederzeit treffen, das sollten wir uns immer vor Augen führen. Und ich finde es ist wichtig sich zu fragen, welchen Umgang ich mir mit mir wünschen würde, wäre ich betroffen und aus dieser Antwort heraus ins Handeln zu kommen.
Wie hat sich dein (Arbeits)alltag durch diesen Kurs verändert?
Ich gehe seitdem ein bisschen anders durch die Welt. Mit offeneren Augen und feineren Antennen. Ich bin auch mit mir selbst noch achtsamer geworden. Wenn ich merke, dass mir etwas zu viel ist, dann nehme ich mir ganz ohne schlechtes Gewissen eine Pause. Auch versuche ich immer mehr meine Arbeit meinem Leben anzupassen und nicht andersrum. Wir müssen sehr gut auf unser psychisches Wohlbefinden aufpassen und das sollte noch stärker in der Arbeitswelt ankommen.
Vor allem möchte ich aber diesen Kurs und seine Inhalte teilen, weil wir mehr Leute brauchen, die so einen Kurs absolvieren. Bei everdrop werde ich meinen Kolleg:innen einen Vortrag darüber vorbereiten und natürlich für jede:n dasein, dem oder der es nicht gut geht und ich es wahrnehme.